Woher Wissenschaftsfeindlichkeit kommt und warum das Misstrauen gerade im deutschsprachigen Raum so verbreitet ist, erklärt Kulturhistorikerin Christina Wessely im Interview.
Haben Sie selbst Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt?
Als Dekanin bin ich manchmal konfrontiert mit den klassischen Ressentiments gegen die vermeintliche Abgehobenheit der Geisteswissenschaft, besonders bei Themen, die dem ersten Augenschein und dem gesunden Menschenverstand widersprechen, wie gendertheoretische Fragen. Dann heißt es oft: „Gibt es nichts Wichtigeres?“ Oder: „Ich weiß doch, wie eine Frau aussieht.“ Aber das auf den ersten Blick Sichtbare ist oft der Feind der Wissenschaft, bei der es um die komplexen Beziehungen, Dynamiken und Beziehungen dahinter geht.
Seit wann gibt es dieses Misstrauen gegen die Wissenschaft?
Die moderne Wissenschaft ist während der Aufklärung um 1700 entstanden, genauso alt ist auch die Wissenschaftsfeindlichkeit. Die beiden sind ein ungleiches Geschwisterpaar.
Warum ist Wissenschaftsfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum besonders verbreitet?
Um 1900 hat sich durch neue Entdeckungen vieles gezeigt, was vorher nicht sichtbar gewesen war, zum Beispiel in der Quantenmechanik. Im deutschsprachigen Raum begann eine Modernefeindlichkeit: Es war die Rede von der zergliedernden Naturwissenschaft, die die Einheit des Lebens zerstört und ihre Schönheit nicht mehr sieht. Begründet wurde diese Entwicklung nicht zuletzt mit dem vermeintlichen „jüdischen“ Charakter der modernen Naturwissenschaften. Dagegen versuchten die Nazis, eine „Deutsche Physik“ zu etablieren, eine antisemitisch verfasste völkische Wissenschaft, die sich allerdings in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft nie etablieren konnte. Anders als in den Fällen jeder Wissenschaftler:innen, die vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus fliehen mussten und im Exil oft glänzende Karrieren machten.
Gibt es noch andere Erklärungsansätze für die Wissenschaftsfeindlichkeit in Deutschland?
Dass diese historisch bedingt besonders ausgeprägt ist, hat auch mit der These von der „verspäteten Nation“ zu tun. Frankreich wurde nach der Französischen Revolution 1792 zur Nation, Deutschland erst nach der Reichsgründung im Jahr 1871. Einige der Hauptfragen einer jungen Nation – wie die nach der Zugehörigkeit – wurden hier erst spät gestellt und fielen in eine Zeit sowohl der großen Dynamik innerhalb der modernen Naturwissenschaft als auch der aufkommenden Modernefeindlichkeit.
Welches Argument schafft Vertrauen in die Wissenschaft?
Kurze Antwort: Weil Wissenschaft funktioniert. Das hat sie in den letzten 200 Jahren bewiesen. Jedes Mal, wenn wir den Herd einschalten oder ins Auto steigen, beruht das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Im Alltag haben wir also schon großes Vertrauen in die Wissenschaft!
Christina Wessely wurde in Wien geboren und ist seit 2014 Professorin für Kulturgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg.
