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03/24

Kinderbuch: Einfach unerhört!

Kinderbuch: Einfach unerhört!

Ein ungehöriges Mädchen

„Am Dienstag kletterte Rosie auf den Baum.“ Ganz harmlos startet Isabel Pin ihre Geschichte. Das Hinaufsteigen über die Köpfe der Erwachsenen hinweg gilt nicht nur bei literarischen Vorbildern wie Calvinos Baron Cosimo oder Janne Tellers Pierre Anthon als Rebellion gegen die Norm. Auch Rosis Aktion wird als ungehörig empfunden, vor allem für ein Mädchen.

Obwohl rein äußerlich gar nicht so viel passiert in diesem Bilderbuch. Sein großzügiges Format und die sanften Aquarellbildern wiegen uns in Sicherheit. Und Baumkraxeln ist ja sozusagen ein Klassiker der Kinderbeschäftigung im Freien. Trotzdem wird die Vorleseroutine irritiert: „Am Mittwoch fingen einige an, Rosie zu sagen, dass sie runterkommen sollte“. Also, und das bleibt vage, muss Rosi in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch doch oben geblieben sein! Ja, hat die da oben übernachtet? Ohne Polster und Decke? In einer gemütlichen Astgabel vielleicht? Und hat sie zum Schlafengehen gar niemand herunter ins Haus geholt? Aber das geht doch nicht!

Die Freiheit, sich aus dem Spiel zu nehmen

An den folgenden Tagen kommen vehementere Versuche, Rosi ins kindliche Schema zu zwingen. „Du sollst mit Puppen spielen oder Fahrrad fahren.“ Die Ermahnungen nützen nichts, Bestechungsversuche – Essen, Kuchen, Fernsehen – ebenso wenig, Drohungen – „Du wirst Weihnachten verpassen“ – wirken schlicht lächerlich. Rosi bleibt oben.

Gegen das Wochenende wird mobil gemacht, mit strenger Stimme, hohen Leitern und Stühlen. Im realen Leben wäre zu befürchten, dass sie längst mit Gewalt vom Baum gepflückt oder derart unter Druck gesetzt worden wäre, dass sie pariert hätte. Im Bilderbuch lässt Rosis Frage „Warum kann ich nicht oben bleiben?“ jeden Widerstand von unten schwinden.

 

Und endlich sehen wir auch, wie Rosi ihre Nächte verbringt: Sie hat einen sicheren Platz gefunden. Ja, das geht. Und der schwarze Vogel, der ein wenig wie ein Huhn aussieht, bleibt trotz Dunkelheit in ihrer Nähe, als tröstlicher Begleiter. Auf beinah jeder Seite ist er zu sehen, auf der Titelei ebenso wie auf der Buchrückseite. Welche Bedeutung mag er haben? Der „Große schwarze Vogel“ ist meist beunruhigend. Und doch immer anwesend während unseres gesamten Lebens.

Rückzug in die Einsamkeit

Rosie besinnt sich – ja, worauf eigentlich? Worüber sie wohl nachdenkt? Die Eule, die als Symbol für Weisheit gelten kann, sitzt bei ihr im nächtlichen Baum. Nur mutmaßen und spekulieren können wir über ihre geistig-seelische Innenwelt.

Allmählich nimmt sie aus der Baumkrone heraus wieder Kontakt mit anderen auf. Vorerst nur plaudernd mit darunter sitzenden Erwachsenen, dann ballspielend mit anderen Kindern von oben nach unten und retour.

Der Wind streichelte sanft die Blätter vom Baum.

Es wird Zeit für einen Abschied. Einige schwarze Vögel ziehen über die Doppelseite und machen sich auf in den Süden.

Am Montag, dem siebenten Tag dieser Woche des Übergangs, kommt Rosi wieder herunter und legt sich auf die Wiese. Sie scheint die Erde und zugleich das eigene Dasein zu umarmen. Ihre geschlossenen Augen und ihr Lächeln zeigt innere Zufriedenheit.

Die lichtdurchfluteten, zarten und meditativen Bilder Isabel Pins laden ein zum Versinken in vertrauensvollen Dialogen über Gott und die Welt, über das Mysterium unseres Lebens. Ein beglückendes Bilderbuch in fröhlichen Farben, ideal für die dunkler werdenden Tage!

 

Rosi auf dem Baum
Text + Bilder: Isabel Pin
Tyrolia Verlag Innsbruck 2020

 

Veronika Mayer-MiedlVeronika Mayer-Miedl

wurde 1971 geboren, ist Buchhändlerin, Mutter von 3 Kindern und lebt in Ottensheim, wo sie 17 Jahre im Kleinen Buchladen tätig war. Ein Fernkurs für Kinderliteratur an der „STUBE Wien“ war wegweisend. Glückliche Begegnungen bei Seminaren im „Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl“ inspirierten zu Bilderbuch-Stunden für Eltern-Kind-Gruppen, zu Literaturvermittlung für Vorschulkinder und zu Referententätigkeit für Kindergartenpädagogik. Aktuell rollt sie mit Eisenbahn oder Fahrrad die Donau entlang nach Linz, wo sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz Bücher empfiehlt, die auf den zweiten Blick noch Überraschendes bereithalten. Mit ihrer Freundin vom Figurentheater [isipisi] teilt sie die Leidenschaft für das japanische Erzähltheater „Kamishibai“ und gibt Vorführungen in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen. Fallweise tritt sie als Grille, rebellische Juliane oder sogar Meerjungfrau auf.

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  • Veröffentlicht: 21.12.2020
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