Kamala Harris (59) steht vor der wohl größten Chance ihres Lebens: Am 5. November könnte sie zur ersten weiblichen Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt und damit die mächtigste Frau der Welt werden. Wo ihre Wurzeln liegen und welche Herausforderungen sie auf dem Weg zur Wahl meistern muss.
Unbestritten: Kamala Devi Harris ist die Frau der Premieren. 2004 wurde sie in San Francisco zur ersten Bezirksstaatsanwältin ernannt. Nur wenige Jahre später, 2011, setzte sie sich bei der Wahl zur Generalstaatsanwältin des Bundesstaates Kalifornien als erste schwarze Frau gegen den damaligen Amtsinhaber durch. 2016 zog sie als erste Südasiatin und zweite „Person of Color“ in den US-Senat ein. Kein geringerer als Joe Biden, damals noch Vizepräsident unter Barack Obama, nahm ihr den Amtseid ab. Er war es auch, der Harris zu seinem „running mate“ (VizepräsidentschaftskandidatIn) im Wahlkampf im Jahr 2020 machte. Am 5. November 2020 ging Harris schließlich erneut in die Geschichte ein, als sie zur ersten Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde.
„Ich bin vielleicht die erste Frau in diesem Amt, aber ich werde nicht die letzte sein, denn jedes Mädchen, das heute Abend zusieht, wird sehen, dass in diesem Land alles möglich ist.“
„Von der Tochter von EinwanderInnen zur Vizepräsidentin“
Für das Land, in dem es seit Beginn der mehr als 200-jährigen Demokratie nur männliche Vizepräsidenten – insgesamt 48 – gab, war dies ein großer und längst überfälliger Schritt. Harris gelang es damit einmal mehr, die gläserne Decke zu durchbrechen, die in den USA besonders Frauen – vor allem anderer Herkunft und Hautfarbe – täglich erfahren. Wohl auch deshalb stand sie nach Bekanntwerden des Wahlsieges im November 2020 in einem weißen Hosenanzug auf der für die Feierlichkeiten errichteten Bühne in Wilmington, Delaware. Damit trug sie die Farbe der Suffragetten, jener feministischen Organisation, die rund 100 Jahre zuvor mit dem Frauenwahlrecht Historisches erreicht hatte. Bei ihrer Rede betonte sie: „Ich bin vielleicht die erste Frau in diesem Amt, aber ich werde nicht die letzte sein, denn jedes Mädchen, das heute Abend zusieht, wird sehen, dass in diesem Land alles möglich ist.“ Dem stimmte auch die jubelnde Menge zu, in der sich besonders Mütter und Töchter vor Freude in den Armen lagen. Unter den zahlreichen Plakaten fand sich an diesem Abend, angebracht an einer Autoscheibe, auch ein Zettel mit der Botschaft: „Von der Tochter von EinwanderInnen zur Vizepräsidentin“.
Es zeigt, dass Harris für viele die Erfüllung des sogenannten „American Dreams“, des amerikanischen Traums, widerspiegelt. Demnach kann man in den USA auch als Kind von EinwanderInnen alles erreichen. Bei Harris, die im kalifornischen Oakland geboren wurde, trifft das auf beide Elternteile zu. Mutter Shyamala Gopalan kam aus Indien nach Amerika, um an der Universität Berkeley zu studieren und später als Brustkrebsforscherin zu arbeiten. Ihr Vater Don Harris stammt aus Jamaika und war Wirtschaftsprofessor an der renommierten Stanford University. Durch die beiden lernte Kamala Harris früh die Bürgerrechtsbewegung kennen und wurde schon als Kind zu den Veranstaltungen mitgenommen. In ihrer Entwicklung spielte besonders ihre Mutter eine entscheidende Rolle, die ihre Töchter nach der Trennung von Kamala Harris’ Vater allein großzog. Ihrer älteren Tochter gab sie auf den Weg mit: „Kamala, in vielen Dingen wirst du vielleicht die Erste sein, die etwas Bestimmtes tun kann. Sorge auf jeden Fall dafür, dass du nie die Letzte sein wirst.“ Diesen Rat scheint die heute 59-Jährige stets beherzigt zu haben: Sie studierte an der privaten Howard University und später an der University of California, begann in den 1990ern als Anwältin zu arbeiten und erarbeitete sich als Staatsanwältin und US-Senatorin einen Namen für ihren harten, aber effizienten Stil.
Ein neues Kapitel
Mit der Wahl zur US-Präsidentin könnte Harris nun ein neues Kapitel amerikanischer Geschichte aufschlagen. Im Falle eines Sieges wäre sie nicht nur die erste Frau an der Spitze der USA, sondern auch die erste Oberbefehlshaberin der US-Armee und zweifellos die mächtigste Frau der Welt. Doch dafür muss die Demokratin, die sich im Wahlkampf unter anderem für Maßnahmen zur Stärkung beziehungsweise Entlastung der Mittelschicht, für Frauenrechte – insbesondere das Recht auf Abtreibung – sowie für strengere Waffengesetze einsetzt, noch einige Hürden überwinden.
Eine davon ist Donald Trump. Denn im Kampf um den Einzug ins Weiße Haus hat es die ehemalige Staatsanwältin mit einem rhetorisch aggressiven und unangenehmen Gegenkandidaten und Ex-Präsidenten zu tun. War Trump schon zuvor für sein rüdes Auftreten bekannt, so hat er seit Harris’ Kandidatur bereits mehrfach durch besonders heftige verbale Attacken auf sich aufmerksam gemacht und schreckte dabei weder vor sexistischen Äußerungen noch vor der Verbreitung von Unwahrheiten zurück.
Zudem muss sich die große Hoffnungsträgerin der Demokraten mit einem weiteren hartnäckigen Vorwurf auseinandersetzen: Sie habe es in ihrer Zeit als Vizepräsidentin nicht geschafft, aus dem Schatten von Joe Biden zu treten. Einem Mann, der immerhin seit den 1970er-Jahren fest in der amerikanischen Politik verwurzelt ist.
„Es mag richtig sein, dass es Harris in den vergangenen vier Jahren an großen Glanzmomenten fehlte. Gleichzeitig muss jedoch eingewendet werden: Auch schwerwiegende Fehler oder gar Skandale blieben aus.“
Es mag richtig sein, dass es Harris in den vergangenen vier Jahren an großen Glanzmomenten fehlte. Dass sie von Joe Biden aber auch vor allem mit unliebsamen und wenig erfolgversprechenden Aufgaben wie der Migrationsproblematik betraut wurde, dürfte ihr das „Heraustreten aus dem Schatten“ zusätzlich erschwert haben. Gleichzeitig muss jedoch eingewendet werden: Auch schwerwiegende Fehler oder gar Skandale blieben aus.
Eine Frage der Rolle
Der Vorwurf des Schattendaseins muss aber auch auf einer anderen Ebene hinterfragt werden: Denn wie viele amerikanische Vizepräsidenten sind uns in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch bahnbrechende Erfolge in Erinnerung geblieben? Wie viele kennen wir noch mit Namen? Und: Ist es nicht gerade die Aufgabe eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin, als Nummer zwei hinter dem Präsidenten/der Präsidentin zu stehen? Diese/n bei der Umsetzung von Zielen zu unterstützen, aber selbst nicht für Aufsehen zu sorgen? Schon einer von Harris’ Vorgängern, John Addams, der später selbst Präsident wurde, betonte: „Ich bin Vizepräsident. In diesem Amt bin ich nichts, aber ich kann alles sein.“ Man kann also darüber streiten, ob Harris aus Unvermögen nicht im Fokus stand oder ob es eher daran lag, dass sie die Rolle einnahm, die nicht nur ihr, sondern auch all ihren Vorgängern zugedacht war.
Erste Bewährungsproben bestanden
Den ersten großen Schritt ins Rampenlicht, wenn man es so nennen will, hat Kamala Harris längst getan. Noch bevor sie von der Demokratischen Partei offiziell als Kandidatin nominiert wurde, gelang es ihr, hochrangige Mitglieder hinter sich zu versammeln: darunter etwa Hillary und Bill Clinton, Josh Shapiro (Gouverneur von Pennsylvania), Roy Cooper (Gouverneur von North Carolina), Gretchen Whitmer (Gouverneurin von Michigan) oder die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Und auch Ex-Präsident Barack Obama sowie seine Gattin und ehemalige First Lady Michelle Obama sprachen sich letztendlich für Kamala Harris aus. Doch es sind nicht nur Mitglieder der Demokratischen Partei, die dies tun: Zuletzt sorgte etwa Jimmy McCain, Sohn des verstorbenen republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain, mit seiner Unterstützung für die 59-Jährige für Aufsehen.
Eine weitere wichtige Aufgabe, die Harris bereits gemeistert hat, ist das im teuren Wahlkampf so entscheidende Spendensammeln. Kurz nach Bidens Rücktritt und seiner Empfehlung, Harris als seine Nachfolgerin zu wählen, sollen bereits mehr als 50 Millionen Dollar in die Wahlkampfkasse der Demokraten geflossen sein. Kürzlich berichteten Medien zudem, dass sie zeitweise mehr als viermal so viele Spenden erhalten haben soll wie Donald Trump. Nicht zuletzt konnte Kamala Harris auch in den Umfragen deutlich zulegen und Trump damit gehörig unter Druck setzen: Laut einer Umfrage von Emerson (Stand: 6.9.2024) liegt sie derzeit rund zwei Prozentpunkte vor dem Republikaner.
Erstes Aufeinandertreffen
Doch Zeit zum Durchatmen bleibt im Wahlkampfmarathon bis zum 7. November nicht. Beim ersten TV-Duell der beiden SpitzenkandidatInnen, das in der Nacht zum 11. September auf dem US-Sender CNN ausgestrahlt wurde, meisterte Harris mit einem souveränen Auftritt eine weitere Bewährungsprobe. Während ihr Vorgänger bei der ersten Konfrontation im Juli nicht nur eine herbe Niederlage einstecken musste, sondern in der Folge auch zurücktrat, konnte Harris einen weiteren Schritt aus dem Schatten gehen. Immer wieder gelang es ihr, den Republikaner in die Defensive zu drängen. Wohl nicht zuletzt deshalb zögert Donald Trump derzeit, sich einem erneuten Duell mit Kamala Harris zu stellen.
In ihrem Kolumnentext „Sexismus als Waffe der Verzweiflung“ setzt sich Chefredakteurin Sabine Kronberger mit Donald Trumps Wahlkampfverhalten gegenüber seiner Konkurrentin Kamala Harris auseinander. „Obwohl er sich schon mehrmals im Ton vergriff und namhafte RepublikanerInnen ihn zu mehr Zurückhaltung mahnten, passierte es erwartungsgemäß wieder: Donald Trump provozierte im Wahlkampf erneut auf sexistische Weise“, so ihre Einschätzung.