Die ukrainische Autorin und Dramatikerin Oksana Maslova wuchs in Odesa auf und prägte die Kulturszene ihrer Heimatstadt – bis der Krieg alles veränderte. Heute werden ihre Stücke unter anderem in Wien aufgeführt. Im Interview spricht sie über Heimatverlust, Resilienz und die Kunst des Weitermachens.
In Odesa konnte man sich im Sommer buchstäblich selbst ernähren. Meine Freundinnen und ich sammelten Miesmuscheln von den Felsen und fingen Grundeln. Wir pflückten auch Beeren – Maulbeeren, Aprikosen und Äpfel – an den Hängen. Die reiche Geschichte Odesas, die exquisite Architektur, die legendären Kunst- und Geigenschulen sowie die vielfältigen kulturellen Projekte hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf mich. Vom klassischen Musikfestival bis zu traditionellen Highlights wie dem Vyshyvanka-Festival – all diese Erfahrungen haben mich geprägt.
Der Krieg hat viele Gewissheiten erschüttert. Wie gelingt es Ihnen, wichtige Entscheidungen in einem Umfeld voller Unsicherheit und ständigem Wandel zu treffen?
Ich glaube an einfache Dinge. Etwa daran, dass jeder von uns die Welt tiefgreifend beeinflusst. Nicht nur unser eigenes Schicksal hängt von uns ab, sondern auch das anderer Menschen. Ich versuche zu helfen, wo ich kann. Genau hier, genau jetzt, mit all meinen Schwächen kann ich für jemanden eine Stütze und ein Trost sein – sei es durch ein Lächeln, eine Frage, eine Umarmung oder eine Nachricht, die jemanden innehalten, nachdenken und Antworten finden lässt.
„Ich glaube an einfache Dinge. Etwa daran, dass jeder von uns die Welt tiefgreifend beeinflusst.“
Trotz Krieg und Krise entscheiden Sie sich also bewusst dafür, an das Gute zu glauben. Was inspiriert Sie täglich dazu, diese positive Sichtweise beizubehalten – sowohl persönlich als auch in Ihrer kreativen Arbeit?
Es ist nicht so sehr Inspiration, sondern vielmehr Motivation. Zu Beginn des Krieges waren um mich herum Kinder, die Angst hatten. Sie waren plötzlich aus ihrer vertrauten kleinen Welt gerissen worden und fanden sich in einer europäischen Stadt wieder. Um meinem Kind beim Einschlafen zu helfen, begann ich, eine Geschichte über einen kleinen blauen Handschuh zu erzählen, der in einer großen Stadt verloren ging. Abend für Abend wuchs diese Geschichte zu dem Buch „The Society of Lost Gloves“ . Es ist auch eine Geschichte über die Suche nach dem eigenen Handschuh, über die Verluste, die wir im Leben erleiden, wie den zweiten Handschuh eines Paares, der nie ersetzt werden kann, und über die wichtigen Menschen, die wir treffen – manchmal diejenigen, die uns auf den ersten Blick gar nicht ähnlich sind. Dieses Buch wurde 2023 in der Tschechischen Republik und der Ukraine veröffentlicht. Es wurde am Stand von Office Ukraine auf der Buch Wien vorgestellt, und sein Titel diente sogar als Inspiration für eine Podiumsdiskussion mit ukrainischen KünstlerInnen in Österreich. Ich träume davon, das Buch auch auf Deutsch herauszubringen.
„Zu Beginn des Krieges waren um mich herum Kinder, die Angst hatten. Sie waren plötzlich aus ihrer vertrauten kleinen Welt gerissen worden und fanden sich in einer europäischen Stadt wieder.“
Seit mehr als zehn Jahren herrscht nun Krieg in der Ukraine. Welche Hoffnungen und Visionen haben Sie für die Zukunft der Ukraine?
Ich möchte, dass die Menschen frei in ihren Entscheidungen sind und nicht in Angst um ihre Sicherheit leben müssen. Sie sollen ihr eigenes Leben leben. Sie sollen lieben, sprechen, singen und schreiben in ihrer Muttersprache. Sie sollen debattieren, erschaffen, wachsen. Ich möchte, dass sie die Freiheit haben Filme zu drehen, Geschäfte zu machen, sich zu verlieben und ihre Abende mit der Person, die sie lieben, in ihrem eigenen Haus verbringen. Sie sollen Kinder gebären und aufziehen können, die in sonnigen Klassenzimmern und nicht in Heimen lernen. Das ist doch normal. Oder etwa nicht? Ich hoffe sehr, dass all das für die Ukraine wieder Realität wird. Ist es nicht normal, sich Normalität zu wünschen?
So viele Menschen sind täglich von Krisen und Konflikten betroffen. Welche persönliche Botschaft möchten Sie abschließend unseren LeserInnen mit auf den Weg geben, insbesondere denjenigen, die in schwierigen Zeiten nach Kraft und Hoffnung suchen?
Weitermachen. Meine persönliche Botschaft lautet: Bitte, macht weiter. Tu, woran du glaubst. Mach die Welt zu einem besseren, freundlicheren, wärmeren Ort – und sei es nur für einen Moment. Manchmal mag es so aussehen, als gäbe es keinen Sinn, als würden Träume nicht wahr, als sei die Welt feindselig. Aber selbst in den schwierigsten Momenten solltest du den Glauben nicht verlieren. Egal, was um dich herum passiert, tu weiter das, woran du glaubst. Und lebe, lebe jeden Tag mit einem offenen Herzen.
Zur Person
Oksana Maslova, ukrainische Schriftstellerin, setzt sich in ihren Werken mit komplexen und sensiblen Themen auseinander, darunter Selbstbild, innerer Transformation sowie der Entscheidungsfindung von Frauen in herausfordernden Lebenssituationen. Diesen Mai findet im Dschungel Wien die Uraufführung ihres Stücks „Verflixt, wer rettet die Welt?“ statt, das von einer drohenden Katastrophe auf der Erde handelt. Für das Puppentheater-Stück arbeitete Maslova mit zehn ukrainischen TeenagerInnen zusammen.