Aktuelle
Ausgabe:
Konsum
03/24

Gut gegangen: Geschichten von Glück und Zufall

Gut gegangen: Geschichten von Glück und Zufall

Manchmal hängt das Leben am seidenen Faden. Oder es steht Spitz auf Knopf, wenn von einem Ereignis alles abhängt. Dem Glück zu vertrauen ist nicht leicht, aber wenn eine Sache gut ausgeht, dürfen wir uns einfach nur freuen.

Ich erinnere mich noch genau. Wir kletterten, vier spätpubertierende Mädels, den Hochsitz hinauf. Oben angekommen auf der Plattform, lehnte ich mich rückwärts an das Holzgeländer, fühlte für einen Sekundenbruchteil plötzlich Leere hinter mir, ein Kippen und dann eine schnelle Hand, die mich am Kragen packte.

Noch bevor ich begriffen hatte, dass der morsche Balken hinter mir nachgegeben hatte, dass ich fast rücklings in die Tiefe gefallen wäre, hatte mich eine geistesgegenwärtige Begleiterin am Schlafittchen gepackt und gerettet. Ein kurzer, tiefer Schreck. Was wäre gewesen, wenn sie nicht so schnell reagiert hätte, wenn ich die sieben Meter hinuntergestürzt wäre? Vermutlich wäre ich auf der Wirbelsäule gelandet. Man möchte sich das nicht so genau ausmalen. Das ganze Leben wäre anders verlaufen.

KLEIN_01_140522-0039 RGB_RZ2Spitz auf Knopf

Entscheidungen sind wie Wegkreuzungen, wir passieren solche kleinen Schaltstellen permanent im Alltag, auch wenn wir gar nichts tun. Die meisten von ihnen sind nicht weiter bedeutend – drehe ich mich rechts oder links herum? –, aber manchmal ist der kleine Zufall eben entscheidend, manchmal steht alles auf dem Spiel eines Entweder-oder. In dem Film „Lola rennt“ arbeitet der Regisseur Tom Tykwer mit diesen Möglichkeiten, mehrmals spult er die Ereignisse zurück und erzählt im Zeitraffer, wie die Geschichte auch hätte weitergehen können, wenn Lola – beispielsweise – zwei Minuten später über die Straße gelaufen wäre.

Das ist lustig anzusehen, macht auf erschreckende und grausame Weise aber klar, wie zerbrechlich das Leben ist, wie sehr von Zufall abhängig, von einem „Glück“ oder „Pech“, das wir nicht in der Hand haben. Brenzlig wird das in den Momenten, die den ganzen Ausgang einer Sache bestimmen, in denen es „Spitz auf Knopf“ steht, wie eine Redewendung aus dem Fechtsport sagt. „Matchpoint“ heißt dieser Augenblick im Tennisspiel, wenn der Ball auf der Netzkante tanzt, bevor er zur einen oder anderen Seite herunterkippt und das Spiel entscheidet. Es gibt nichts, was das beeinflussen könnte. Nur das Glück.

Kontingenz

Recht besehen ist der reine Zufall ein Skandal. Denn der Mensch ist ein Sinnwesen. Er braucht, er sucht und er schafft Bedeutung. Dass da etwas  auch anders hätte kommen können – grundlos, oder „kontingent“, wie die PhilosophInnen sagen – ist schwer auszuhalten. Eigenartigerweise suchen wir für das Unglück eher Gründe als für das geschenkte Glück. Beim zufälligen Gewinn freuen wir uns, beim Verlust fragen wir oft warum. Warum musste das geschehen? Warum ausgerechnet mir? Was wäre gewesen wenn?

Die Warum-Fragen sind genauso hilflos wie das Verweilen im Konjunktiv des „Was wäre …“. Offenbar ist Geschehenes viel leichter zu akzeptieren, wenn wir Gründe kennen, irgendetwas oder -jemanden als Ursache ausmachen können. Die alten Griechen stellten sich in ihrer Mythologie das Schicksal als Göttinnen vor. Die drei Moiren spinnen den Lebensfaden und schneiden ihn ab; Tyche fügt recht wankelmütig Gutes oder Böses zu. In seiner Ethik fragt Aristoteles, der schon nicht mehr naiv an Mythen glaubt, ob es für die „eudaimonia“ (das gute, glückliche Leben) auch „eutychia“ also „Glück haben“ brauche. Das ist eine spannende Frage. Denn es gibt ja einerseits das lange Lebensglück und dagegen das kurze Augenblicksglück, von dem manchmal viel abhängt. Andere Sprachen sind etwas genauer als das Deutsche und unterscheiden zwischen „glücklich sein“ und „Glück haben“.

Im Englischen heißt das eine „happyness“ das andere „luck“. Im Französischen ist das ganze „bonheur“ mehr als die einzelne „chance“ und im Lateinischen ist „beatitudo“ etwas anderes als „fortuna“.

Wir alle lieben und brauchen zu unserem Trost Geschichten mit „Happy End“. Ob aber etwas ein „Happy Ending“ ist, hängt sehr davon ab, wie wir eine Geschichte erzählen und vor allem wann wir aufhören, sie zu erzählen. Solange das Leben geht, geht es ja weiter, und wir wissen nicht, was noch kommt.

Manches geht wirklich schlecht aus, und es wäre ein Hohn, dann zu raten: „Sieh die guten Seiten.“ Es gibt sehr nachhaltiges Unglück und böses Pech. Das zu leugnen wäre falsch und eine Nichtachtung derer, die es trifft. Trotzdem gilt am sprichwörtlichen „Ende des Tages“ eine Sicht aufs ganze Leben. Manchmal drehen sich die Ereignisse und Perspektiven. Manchmal stellt sich etwas, was nicht gut gegangen ist, auf den zweiten Blick als gut heraus. Im Leben geht es wohl immer darum, den Widerfahrnissen Bedeutung zu geben, sie mit biografischem oder auch geistigem Sinn zu füllen.

Den einzelnen Glücksfall können wir nicht beeinflussen, die ganze Lebenserzählung aber schon. Insofern können wir zum „Glücklichsein“ selbst beitragen und sind dafür verantwortlich. Trotzdem braucht Leben eine Portion Zufallsglück. Gerlinde Kaltenbrunner lag nicht im Zelt, als die Lawine herunterging. Birgitt Müllers Sohn Frederik retteten Zufälle immer wieder das Leben. Die Liebe von Margarethe Pühringer und Raimund Schützenhofer bekam eine zweite Chance. Der Familie Ferenczi erlaubte ein Behördenirrtum die Flucht in den Westen. Wenn er eintritt, darf, soll, ja muss man sich freuen über den Glücksfall als ein Geschenk.  

Eheglück im langen Anlauf

Margarethe Pühringer & und Raimund Schützenhofer

Zwischen ihrem Verlieben und ihrer Heirat liegen gut 50 Jahre. Margarethe Pühringer, 84, und Raimund Schützenhofer, 87, sind ein junges altes Ehepaar. Einige Tage pro Woche wohnen sie in Margarethes Auszugswohnung, die anderen Tage auf Raimunds Bauernhof. Wer bei ihnen am Tisch sitzt, erlebt ein vergnügtes, sich neckendes Paar. Ein Wunder, dass ihre Geschichte so ausgegangen ist.

KLEIN_15_140520-0755 RGB_RZDie Gretl hatte sich 1949 unsterblich in den Mundl verliebt. Ihm hat sie auch gefallen, er tanzte gerne mit ihr, mochte ihr Temperament. Beide hatten sie aber nichts, worauf man zu der Zeit eine Existenz hätte aufbauen können. Keinen Beruf, keinen Hof, keinen Besitz. „Damals horchte man noch mehr auf die Eltern als heute“, erzählt Raimund Schützenhofer. Und die waren der Meinung, dass er sich lieber eine Braut mit Grund und Boden suchen sollte. Sie hatten auch schon eine für ihn im Auge.

Raimund machte sich die Entscheidung nicht leicht. Als er der Gretl dann sagte, dass er eine andere heiraten werde, wollte sie zuerst gar nicht mehr weiterleben. Kurz darauf heiratete sie aber auch einen anderen. Weil es vernünftig war und dann doch auch eine Liebe wurde. Beide waren sie jeweils fast 50 Jahre mit ihren Partnern verheiratet. Raimund wurde Vater von acht Kindern, Margarethe von fünf.

Man hatte viel Arbeit, nur ab und zu fragte man nach einander über Bekannte hinweg. Dann, sie war 72 und er 77, trafen sich die beiden zufällig bei einem Begräbnis wieder. „Na, wie geht es dir?“ – „Eh gut. Ich bin jetzt wieder alleine.“ – „Ich auch.“ Drei Monate später waren die beiden verheiratet. Nicht zuletzt, sagen sie verschmitzt, um den Enkelkindern ein gutes Vorbild zu geben.

Ob die zweite Ehe auch eine Vernunftehe gewesen sei? „Nur von der Liebe kann man nicht leben“, antworten die beiden lachend und fassen sich an der Hand. Natürlich habe jeder schon seine Eigenheiten. Gretl stört, dass Raimund immer seine Zahnprothesen herausnimmt, er mag es nicht, wenn sie ihm verbietet, während des Fernsehens mit ihr zu reden. Aber missen möchte man einander auf gar keinen Fall. Die Glut der ersten Liebe wärmt bis heute. (Christine Haiden)

Von glücklichen Fügungen

Frederick und Birgit Müller

Es gibt Bilder, die Birgitt Müller, 41, ein Leben lang begleiten werden. Mitten in der Nacht während eines Kurzurlaubes in der Steiermark das Bett voller Blut. Das geschwächte Baby Frederik nach dem Notkaiserschnitt im Inkubator. „Ihr Sohn ist gerade ,verfallen‘“, wurde Birgitt Müller nachts um eins mitgeteilt. Doch als das Baby zu atmen aufgehört hatte, war ein Kinderarzt wie zufällig neben seinem Bettchen und konnte ihn sofort intubieren.

KLEIN_18_140522-0705 RGB_RZVon der Uniklinik in Graz, in die der 16 Stunden alte Frederik mit der Rettung gebracht worden war, rief ein aufgeregter Arzt an. Er sprach von einem hypoplastischen Linksherzsyndrom, dass Frederiks linke Herzkammer so groß wie eine Erbse sei. „Ob Ihr Kind morgen noch lebt, weiß ich nicht“, musste der Arzt den geschockten Eltern mitteilen.

Mit dem Rettungshubschrauber wurde Frederik nach Linz in das Kinderherzzentrum geflogen und einer siebenstündigen Operation unterzogen. „Vor 15 Jahren hätte unser Kind nicht überlebt, da dieser komplexe und risikoreiche Eingriff chirurgisch in Österreich noch nicht möglich war.“

Birgitt Müller wagt nicht zu beurteilen, ob es Glück oder Zufall war, dass einer der weltbesten Chirurgen in Linz der Familie zur Verfügung stand. Sie sieht sich als „Teil eines großen Plans“, in dem sie und ihr Mann versuchen, alles für ihr Kind zu geben. „Es ist nicht unser Erfolg, sondern ein großes Geschenk, dass Frederik lebt.“

Birgitt erinnert sich an die unzähligen Nächte, in denen Frederik nie mehr als zwei Stunden schlief und sie mit dem weinenden Kind stundenlang in der Küche auf und ab ging. „Ich habe mich oft schwach und alleine gefühlt, obwohl es so viele Menschen gab, die uns unterstützten.“ Eine ganz schwierige Zeit war das, besonders auch für den älteren Bruder Benjamin. Unvergessen bleibt für die Familie, dass Frederik mehrmals dem Tod näher war als dem Leben. Er hat überlebt, dank unzähliger Medikamente und „einem Heer“ von engagierten ÄrztInnen und PflegerInnen. „Was bleibt, ist das Gefühl von Dankbarkeit“, sagt seine Mutter. Frederik ist und bleibt ein Hochrisikopatient. Doch mitleidigen Blicken begegnet er als charmanter „Kasperl“, der alle zum Lachen bringt. Der Sechsjährige kommt im Herbst in die Schule. (Michaela Herzog)

„Ich fühle mich ausgewählt“

Iren Ferenczi

„Ihr habt das Leben noch vor euch, warum geht ihr nicht in den Westen?“, fragte sie ein Verwandter bei einem Familientreffen. „Mein Mann hatte den Einberufungsbefehl zum ungarischen Militär erhalten und wäre als Soldat nach Danzig geschickt worden“, erinnert sich Iren Ferenczi. „Er wollte nicht gegen die neue, unabhängige Gewerkschaft ,Solidarnosc‘ kämpfen müssen.“ Iren und Tibor Ferenczi waren beide gerade 22 Jahre alt, als sie beschlossen, mit ihrem zweijährigen Sohn aus Ungarn nach Österreich zu fliehen. „Wir waren unbekümmert und unverantwortlich“, urteilt die 55-jährige Iren heute. „Nie dachten wir daran, welche Probleme dieser Schritt unseren Familien bringen könnte.“ Üblich war zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, dass ein Familienmitglied „als Sicherstellung“ in Ungarn bleiben musste. Dass sie drei Touristenvisa ausgestellt bekamen, war ein Irrtum der Behörden.

KLEIN_19_140528-0094 RGB_RZMit der Kraft der Jugend und Herzklopfen bis zum Hals fuhr das Ehepaar mit seinem Sohn über die Grenze. Riesengroß war die Erleichterung, als sie am 8. August 1981 in Wien aus dem Zug stiegen.  Iren erinnert sich an das Auffanglager Traiskirchen, es war ein kasernenartiges Haus, Polizisten bewachten es mit Maschinengewehren, im Schlafsaal gab es vierzig Stockbetten und nur zwei Frauen unter all den Männern, lauter polnische Flüchtlinge und eine Handvoll Ungarn. WCs ohne Türen.

Die nächste Unterkunft fanden sie bei einer Bauernfamilie. „Wir waren gar nicht willkommen.“ 5.000 Schilling bekamen die pro Kopf und pro Monat „für uns und ich wusste manchmal nicht, was ich meinem Kind zum Essen geben sollte“. Die Ersparnisse waren längst aufgebraucht, und ein zweiter Sohn war inzwischen auf die Welt gekommen. Zweimal hatte Tibor Ferenczi in diesen Monaten Zugkarten gekauft. Er wollte den Erniedrigungen, Schreiereien und Vorurteilen nicht mehr ausgeliefert sein. „Unsere Rückkehr nach Ungarn hätte aber Gefängnis und Kinderheim bedeutet.“ Ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge erhielt die Familie nach sieben Monaten. „Endlich konnten wir arbeiten“, sagt Iren.

Erst nach zehn Jahren begann sich für die Familie das Leben in Österreich gut anzufühlen. „Wir halten fest zusammen, sind gesund, und ich liebe meinen Beruf als Diplomkrankenschwester.“ Dass Glück und Zufall zusammengehören, hat sie mehrmals erfahren. Doch auf die Frage, ob sie alles noch einmal so machen würde, weiß Iren keine Antwort. (Michaela Herzog)

Erschienen in "Welt der Frau" Ausgabe Juli/August 2014
  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 01.07.2014
  • Drucken