Wenn der Ausnahmezustand zum Alltag wird: Frauen aus der Stadt Odessa in der Ukraine berichten über ihr neues „Normal“. Diesmal erzählt Liliya Shtekel über ihre Zuflucht im Theater.
Stellen Sie sich vor, es ist Luftalarm. Das Signal zwingt Sie, sofort in den Schutzraum zu laufen. Sie hoffen, dass heute nicht Ihr letzter Tag ist. Überall zerstörte Gebäude, in denen Sie oder Ihre FreundInnen gewohnt haben, in denen Sie sich zum ersten Mal verliebt oder eine wichtige Prüfung bestanden haben. Kinder, die unter der Erde in Schutzräumen lernen müssen.
Getötete Menschen in Ihrer Heimatstadt – Menschen, mit denen Sie noch vor wenigen Stunden gesprochen haben. Telefonnummern – mit liebevollen Spitznamen im Handy gespeichert –, unter denen sich nie wieder jemand melden wird. Stundenlange Dunkelheit, während die Stromversorgung nach einem Raketenangriff auf die Infrastruktur repariert wird – manchmal länger als einen Tag.
Der Wert von Theater im Krieg
Das ist die Realität, in der UkrainerInnen seit fast drei Jahren leben. Woher nehmen sie die Kraft, weiterzumachen? Drei Frauen aus der freiheitsliebenden südukrainischen Stadt Odessa, die vor Beginn des großflächigen russischen Angriffs auf die Ukraine mehr als eine Million EinwohnerInnen zählte, berichten in unserer 3-teiligen Serie über ihr neues Leben.
Diesmal: Liliya Shtekel ist die Literaturdirektorin des Odesa-Theaters für junge ZuschauerInnen, das 1930 gegründet wurde. Trotz des Kriegsrechts werden dort weiterhin Vorstellungen und zwei bis drei Premieren pro Theatersaison inszeniert.
Ich kümmere mich als Literaturdirektorin um die Auswahl der Stücke, kommuniziere mit den AutorInnen und organisiere Veranstaltungen. Das Odesa-Theater hat mich 2018 eingestellt. Bis dahin war ich Theaterkritikerin und schrieb darüber, wie man das Theater verbessern könnte. Ich hatte das Glück, meine Träume im Odesa-Kindertheater verwirklichen zu dürfen. Vor dem Krieg schafften wir fünf bis sechs Premieren pro Saison.
Manche fragen sich vielleicht, wie man während eines Krieges Theater machen kann. Wir haben Angst, aber wir arbeiten weiter. Im Frühling 2022 spielten wir ehrenamtlich in Luftschutzkellern, Schutzräumen und Parkhäusern. Arbeiten durften wir erst im Sommer 2022. Ich erinnere mich, wie die Kinder vor den Aufführungen wie alte Menschen im Foyer saßen. Nach den Vorstellungen aber lächelten sie, liefen und spielten wie normale Kinder. Die Proben werden regelmäßig durch Luftalarme unterbrochen, dann üben wir im Schutzraum. Auch die Vorstellungen müssen unterbrochen werden. Dann gehen wir mit dem Publikum in unseren Schutzraum, in dem Platz für 70 bis 90 Personen ist, warten auf das Ende des Alarms und setzen die Aufführung danach fort. Im Schutzraum spreche ich mit den Menschen, erzähle von der Geschichte des Gebäudes und des Theaters, beantworte Fragen. Die Kinder malen oder schauen sich Bücher an.
„Das Theater heilt – das habe ich mit eigenen Augen gesehen.“
Unser Theater ist ein Zufluchtsort für die Psyche, ein Ort, an dem man sich selbst stärken kann. Viele unserer ZuschauerInnen sind Binnenvertriebene, die ihr Zuhause verloren haben, und es gibt viele Kinder mit Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen. Das Theater heilt – das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Zum Beispiel kam eine Mutter mit ihrem elfjährigen Sohn regelmäßig zu uns. Sie waren aus einem besetzten Gebiet evakuiert worden, nach der Besetzung hatte der Bub aufgehört, zu sprechen – ein halbes Jahr lang sagte er kein Wort. Bei unseren Vorstellungen reagierte er zum ersten Mal lautstark, gab unverständliche Laute von sich. Seine Mutter nahm ihn deshalb immer wieder mit. Eines Tages nach einer Aufführung stand der Bub auf und fragte: „Mama, warum haben sie die Vorhänge geschlossen?“ Das ist die magische Kraft der Kunst! Immer wenn jemand meint, Theater sei im Krieg nicht wichtig, erinnere ich mich an diesen Buben.
Theater in Zeiten des Krieges ist eine Mission. Wir arbeiten für die Zukunft. In den ersten zwei Jahren habe ich keine Stücke gelesen, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Ich suchte nach Verbindungen, Analogien, Anspielungen. Es war notwendig, das Publikum auf das Überleben vorzubereiten – im Krieg, im Hinterland oder in der Evakuierung. Jetzt schauen wir wieder auf Klassiker, auf ewige Werte, auf Geschichten, die den Menschen helfen, Freude zu finden und nicht aufzugeben. Im Krieg sind alle Gefühle intensiver, nichts ist unwichtig.
Meine Arbeit gibt mir viel Halt. Und meine Katzen, die ich alle füttern muss. Ich habe gelernt, alle Geräte aufgeladen zu halten und immer ein Ladegerät und eine Taschenlampe dabeizuhaben. Wichtig ist, ruhig zu bleiben, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich bei jedem Alarm in den Schutzraum zu begeben. Bequeme Schuhe sind ein Muss – am besten Stiefel oder Turnschuhe. Und während eines Blackouts sind reflektierende Kleidungselemente unerlässlich. Denn vor uns liegt das Leben – und dieses Leben will gelebt werden.