Mit ihren Fotografien bewegt sich Künstlerin Gerlinde Miesenböck zwischen Heimat und Fremde, Nähe und Ferne, Annäherung und Entfremdung.
„Meine Inspiration passiert in der Heimat“, meint Fotokünstlerin Gerlinde Miesenböck (46), die dem Begriff allerdings mit großer Ambivalenz begegnet: Am Mühlviertel, eigentlich an allem, was sogenannte „Heimat“ ist, reibt sie sich. „Ich sehne mich hin, und dann will ich wieder weg“, sagt die Künstlerin, die seit vielen Jahren in Deutschland und Österreich lebt. Zunächst studierte sie „Visuelle Mediengestaltung“ an der Kunstuniversität Linz, den Studienabschluss BA (hons) erreichte sie an der Manchester Metropolitan University in England, die Titel Mag.art und PhD erhielt sie wiederum an der Kunstuni in Linz.
Während des Studiums in England entstand 2001 eine Fotoserie, die sich mit dem eigenen Fremdsein auseinandersetzt: „dis|placed“ reflektiert die Produktion nationaler Identität im Zusammenhang mit Orten von „nationaler“ Bedeutung.

Jedes Jahr stellt Gerlinde Miesenböck ihre Fotokunst in mehreren Ausstellungen aus. „Das Netzwerk um einen herum ist so wichtig! Es ergeben sich aus der Präsenz in spannenden Häusern oft wieder sehr gute Kontakte.“ 2006 und 2009 verbrachte die Fotografin längere Zeit als Artist in Residence in Finnland. Dort entstanden unter anderem herrlich beruhigende Landschaftsbilder und die Serie „YKSIN“, in der Miesenböck die verschiedenen Facetten des Alleinseins anhand von Selbstporträts in der weiten finnischen Landschaft mit ihren speziellen Lichtherausforderungen, aber auch in ihrem zwischenzeitlichen finnischen Wohnraum reflektiert. Das eigene Fremd- und Zuhausesein bettet Miesenböck dabei stets in ein größeres Ganzes ein: So fließen etwa die Migrationsbewegungen nach Europa und der Umgang der Politik damit in ihre künstlerische Auseinandersetzung mit ein.
Wie bei vielen KünstlerInnen setzt sich auch bei Miesenböck das Einkommen aus einer Mischung von Werkverkäufen, Kunstpreisen, Stipendien, Auftragsarbeiten und Vortragstätigkeiten zusammen. KünstlerInnen sind Selbstständige. Der damit verbundene Aufwand ist für Außenstehende kaum vorstellbar: Alles muss beantragt, beworben, versteuert und dokumentiert werden. Ein „ganz pragmatischer“ Brotjob in einem Büro, der ungefähr ein Viertel ihrer Arbeitszeit ausmacht, verschafft Gerlinde Miesenböck die nötige finanzielle Freiheit, in München leben und die Unbeständigkeit der selbstständigen Arbeit auffangen zu können. Die Fotografin sieht diese Abwechslung positiv: „Es ist ganz anders als in der Kunst, wo immer alles möglich und erlaubt sein kann. Da entscheide ich alles, bedenke gleichzeitig auch die Betrachterin, den Betrachter und wie das, was ich in meinen Bildern ausdrücke, auf sie wirkt. Bei der Arbeit im Büro gibt es klar ein Richtig oder Falsch, und damit ist es erledigt. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.“

In den Projekten „quelqu‘une“ und „autres“ wagt Gerlinde Miesenböck eine extreme künstlerische Annäherung an Menschen, indem sie die eindeutige Identifizierung komplett aufhebt. Die Gesichter der Abgebildeten werden mithilfe einer Bildbearbeitungssoftware verdeckt und unsichtbar gemacht. „Für ‚autres‘ bitte ich verschiedene Menschen jedes Alters und jedes Geschlechts ins Studio. Durch das Eliminieren der Gesichter, die durch die Omnipräsenz in sozialen Medien sonst so wichtig für unsere Selbstrepräsentation sind, wird der Fokus stärker auf den Rest gelenkt: auf die Kleidung als Repräsentationsmittel für Werte, Status, Rolle und Gender. Diese Porträts wirken durch die Verschmelzungen von Pose, Kleidung und Hintergrund surreal und verstörend.“ Und das ist der Sinn der Sache: Kunst soll verstören, aufrütteln und Fragen aufwerfen.

Gerlinde Miesenböck beherrscht auch die dokumentarische Fotografie. Im Text zum Projekt „Land_sterben“ heißt es: „In Folge der ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen sehen sich viele Landwirte gezwungen, ihren Beruf aufzugeben, ein Phänomen mit dem Namen ‚Bauern-Sterben‘.“ Immer wieder bildet sie das bäuerliche Leben und die verbliebene ländliche Kultur im Mühlviertel ab und arbeitet damit auch gegen die Romantisierung von Tradition und Kultur auf dem Land.

Historische Aufnahmen als Teil der Kompositionen in der Bilderserie „Das Erbe“ bilden Zeitfenster in die Vergangenheit, in denen sich das Individuum in der ländlichen Gemeinschaft spiegelt. Auch Miesenböck selbst stammt aus dieser Welt. Die Sehnsucht nach dem „Fremden“ führt sie aber zweifellos auch stets an andere Pole der Fotokunst.