Aktuelle
Ausgabe:
Familie
11/12/24

Bullerbü ist (nicht) überall

Bullerbü ist (nicht) überall
Foto: Adobe Stock

Welcher Ort für mich Astrid Lindgrens kleiner schwedischen Idylle gleicht, warum Familie für viele alles andere als ein Paradies ist und wie wir dennoch mehr Bullerbü-Momente in unser Leben holen können.

Das Synonym für idyllische Kindheitsmomente ist für mich das kleine Dörfchen Bullerbü im schwedischen Småland. Wohlig warm hüllen mich die Geschichten und Bilder aus Astrid Lindgrens Erzählungen heute noch ein. Nicht zuletzt trage ich meinen Vornamen wegen Oles jüngerer Schwester Kerstin, die für mich die süßeste Protagonistin in diesen Geschichten rund um Freiheit, Unbeschwertheit und familiäre Idylle ist.

Oberösterreichische Parallelwelt

Ich bezeichne den Ortsteil, wo mein Elternhaus steht, heute noch als „Bullerbü“. Meine Kindheit ist in vielen Belangen ähnlich unverfälscht, von sehr viel Vertrauen und wenig erwachsener Kontrolle geprägt, wie das Leben von Lisa und den restlichen Kindern am Nordhof, Mittelhof und Südhof, die Lindgrens Fantasie entspringen. Meine Cousins und Geschwister waren als SpielgefährtInnen bei jedem Blödsinn dabei, stundenlang spielten wir im (an die Autobahn!) angrenzenden Wald oder am Dachboden des Bauernhofes meiner Großeltern. Wir waren frei, und auch wenn es ab und zu eine Standpauke gab, weil wir zu spät heimgekommen sind, ist der Unterschied zur schwedischen Parallelwelt kaum erkennbar.

Erwachsene prägen die Energie in Familien

Familie prägt unser erstes „Normal“, wie ich gern zu sagen pflege. Wie außergewöhnlich, besonders und schätzenswert das Umfeld meiner Kindheit war, wurde mir erst sehr viel später in meinem Leben bewusst. In Frauenkreisen, meinen Ausbildungen und nicht zuletzt im Beratungsalltag lerne ich die erschütternden Realitäten anderer Menschen kennen. Ihr Zuhause, ihre Familie, ihr „Normal“ fühlt sich anders an.

„Ungemütliche Stimmung und Gewitterwolken darf es auch in Bullerbü geben. Insgesamt wünsche ich aber Kindern ein Zuhause, das der sprichwörtliche Fels in der Brandung ist.“

Ein sicherer Hafen zum Aufwachsen soll eine Familie sein. Ein Ort, wo Fehler nicht nur erlaubt sind, sondern ermöglicht werden. Eine Umgebung, die uns ermutigt, die Welt zu entdecken, und uns gleichzeitig jederzeit verständnis- und liebevoll wieder aufnimmt, wenn es da draußen zu rau für uns wird. Ob und wie das möglich ist, liegt maßgeblich an der Beziehung zwischen den Erwachsenen. „Die Energie, die in einer Familie zur Verfügung steht, richtet sich nach der Qualität der Beziehung der Eltern zueinander“, sagt der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Von fließend positiv über blockiert negativ bis gefährlich explosiv kann da alles dabei sein.

Gewitterwolken in Bullerbü

Explosiv war es auch in meiner Kindheit ab und zu. Zum Beispiel, als ich dem Papa als Vierjährige beim Motorölwechseln „half“ und das pechschwarze Öl in die angrenzende Wiese kippte, weil ich es für dreckiges Wasser hielt. Oder als uns der Onkel dabei ertappte, wie wir Kinder versuchten, seelenruhig im Dämmstofflager Lianen zu rauchen. Oder als ich als 17-Jährige an Silvester bereits vor Mitternacht von einer Party nachhause gebracht wurde, weil ich ein Gläschen zu viel hatte. Ungemütliche Stimmung und Gewitterwolken darf es auch mal in Bullerbü geben. Insgesamt wünsche ich aber Menschenkindern, allen voran meinen eigenen, ein Zuhause, das der sprichwörtliche Fels in der Brandung ist. Beständig, sicher, unerschütterlich. Egal, was das Leben so anspült.

Leider machen viele Menschen auch andere Erfahrungen. Sie werden von Erwachsenen erzogen, die sie mangelhaft unterstützen und die erforderliche Sicherheit und Fürsorge vermissen lassen. Manche werden bei jeder Gelegenheit geringgeschätzt, gedemütigt oder herabgewürdigt. Teils offen, teils subtil, teils unterschwellig. Ich kann nicht sagen, was ich schwieriger finde. Hätte ich es nicht direkt aus dem Mund diverser Menschen gehört, würde ich es kaum glauben. Der Katalog der ablehnungswürdigen Persönlichkeitsmerkmale, Gewohnheiten oder Haltungen ist scheinbar mannigfaltig. Da verwandelt sich ein Zuhause schnell in eine karge Höhle, die gerade so das Überleben ermöglicht, wenn es nicht sowieso eine einsturzgefährdete Bruchbude ist. Im übertragenen, manchmal auch im realen Sinn.

Zwischenmenschlicher Schimmelpilz

Die Wahrheit ist leider: Eltern kritisieren ihre Kinder für Bedürfnisse, Berufswahl oder Bildungswege. Sie bezeichnen sie als faul, verwöhnt und verträumt, üben überbordende Kontrolle aus, solange sie können, und äußern unverblümt ihre Enttäuschung über die Erwartungen, die ihre Kinder nicht erfüllen. Zu guter Letzt sind Lebensentscheidungen wie Partnerwahl, sexuelle Orientierung oder Wahl des Wohnorts häufig ein Grund für Spannungen zwischen den Generationen. Das Einmischen in Erziehungsfragen ist neben der angeblich fehlenden Dankbarkeit gegenüber den Eltern („Was haben wir dir nicht alles ermöglicht!“) wohl die sicherste Variante, den zwischenmenschlichen Schimmelpilz in ein Zuhause einziehen zu lassen. Er macht Menschen krank und zerstört gesunde Beziehungen zwischen den Generationen.

So kommt es auch, dass Weihnachten – und die damit verbundenen Familienzusammenkünfte – für manche Menschen ein hoher Stressfaktor sind. Die vielen emotionalen Verletzungen, die ungesunden Macht- und Abhängigkeitsstrukturen und der immer noch mangelnde Respekt samt fehlender Wertschätzung machen das Fest der Liebe zu einem emotionalen Minenfeld. Nicht zuletzt dank der überhöhten Erwartungen aneinander.

Um zumindest mit Respekt und Achtung – wenn schon nicht in Liebe und Frieden – die Feiertage zu verbringen, sollte Folgendes hilfreich sein:

Tipps für Eltern:

  • die Autonomie und Entscheidungen der erwachsenen Kinder respektieren
  • aktiv zuhören, ohne zu urteilen
  • antworten, wenn das wirklich gefragt ist
  • wertschätzende Kommunikation üben, welche darauf basiert, das Gegenüber zu hören und zu sehen – und im besten Fall vielleicht sogar zu verstehen
  • Verantwortung für die eigenen Fehler übernehmen und gegebenenfalls um Verzeihung bemühen

Tipps für erwachsene Kinder:

  • klare Grenzen setzen und diese respektvoll kommunizieren
  • professionelle Hilfe in Betracht ziehen, um emotionale Verletzungen zu verarbeiten und dadurch einen friedlicheren Umgang für die Zukunft ermöglichen
  • überlegen, ob eine langsame Annäherung durch Dialog möglich ist, bevor ein völliger Kontaktabbruch erfolgt

Tipp für mich selbst

In so vielen kleinen Situationen im Alltag wird mir bewusst, welches Geschenk mein unbekümmertes und gleichzeitig behütetes Aufwachsen ist – auch wenn selbst in „Bullerbü“ manches falsch gelaufen ist. Meine Dankbarkeit darüber fließt direkt durch mein Herz. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit will ich wertschätzen, was ich in meiner Herkunftsfamilie mitbekommen habe und was ich in meiner Gegenwartsfamilie erleben darf. Die normalen, selbstverständlichen und alltäglichen Dinge des Lebens sind alles andere als das. Und selbst wenn: Ein ehrliches Danke, achtsames Wahrnehmen oder bewusstes Würdigen kann kleine Wunder bewirken. Zu Weihnachten und an jedem anderen Tag im Jahr. Daran will ich mich erinnern.

„Auch wenn Bullerbü nicht überall sein kann, bin ich fest überzeugt, dass ich mir Bullerbü-Momente erschaffen kann. 22 Jahre nach Lindgrens Tod und mitten in Österreich.“

Der vollbesetzte Schlitten, der in dunkler Nacht von braven Pferden durch eine tief verschneite Landschaft zur Christmesse gezogen wird, ist ein Bullerbü-Moment, der sich wahrscheinlich in diesen Breiten nie für mich erfüllen wird. Ich will nicht wie Lasse mit den neuen Eislaufschuhen am zugefrorenen See einbrechen. Aber was ich mir gerne in meine Realität holen werde: die lustige Stimmung beim Pfefferkuchenbacken, wenn wir zuhause Kekse zusammenkleben. Das Zusammenhelfen mitten in den Weihnachtsvorbereitungen, wo man laut Oles Mama „keine Faulpelze brauchen kann“. Und die verbindenden Momente zwischen Generationen, wie sie in Bullerbü mit Brittas und Ingas Großvater stattfinden. Unperfekt, entspannt und einfach.

Rezept für mehr Bullerbü

Auch wenn Bullerbü nicht überall sein kann, bin ich fest überzeugt, dass ich mir Bullerbü-Momente erschaffen kann. 22 Jahre nach Lindgrens Tod und mitten in Österreich. Nicht mit Siegellack, Stockfisch oder Grütze. Sondern mit offenem Herzen, Gemeinschaftssinn und einer großen Portion Mut zur Unvollkommenheit. So will ich nicht nur Weihnachten denken, sondern Familie ganz generell.

Familien sind die kleinsten gesellschaftlichen Zellen. Was hier gelingt, kann im Großen wirken. Was hier schiefgeht, wird im Großen wirken. Wir haben es in der Hand – zumindest ein gutes Stück weit –, diesen Raum als Erwachsene zu gestalten. Jeden Tag neu. Dazu will ich mir selbst Mut machen. Und uns allen. Damit vielleicht irgendwann jeder Mensch sein persönliches Bullerbü erleben darf.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: www.kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 11.12.2024
  • Drucken