Johanna, die praktische Ärztin, und ihre Zwillingsschwester Doris, die handfeste Tischlerin, finden sich nach dem Tod ihrer Eltern an dem Ort wieder, von dem die eine (Johanna) nur wegwollte und an dem die andere (Doris) immer bleiben wollte.
Phantomschmerz Heimat
„So, wie die beiden dastehen, wirken sie wie eine Karikatur der vergleichenden Zwillingsforschung, wie Landmaus und Stadtmaus.“
Genau in diesem Duktus begleitet man die beiden Frauen durch ihre Gegenwart, steigt mit ihnen in ihre so unterschiedlich wahrgenommene Vergangenheit hinab, schärft den Blick für Hallstatt, die Zugezogenen, die Integrierten, die Gierigen sowie die Sanften und beginnt, diesen Ort ganz für sich zu erkunden. Das „Ich“ im Erzählstrang ist Patrick vorbehalten, der sich als „Herr Patrick“ vorstellt und eine der Bauernstatistinnen ermahnt, zur Tracht keine Nike-Socken zu tragen. Patrick ist der Meister der Täuschung und dirigiert im „Longji Terrace Scenic Resort“ die Geschicke der Angestellten, der BesucherInnen und nicht zuletzt seine eigenen.
Während die einen daran arbeiten, Hallstatt in China – seitenverkehrt – nachzubauen, setzt der bestens integrierte Andrej alles daran, seine Idee des sanften Tourismus im Ort zu verankern: Die Krankheit seiner Frau Maria bringt ihn in Kontakt mit Johanna, der Ärztin, und Doris, der Tischlerin, die ihm bei der Renovierung des Hauses hilft.
„Maria hatte sich lange gewehrt, sie sagte, das Landleben sei nur für die Männer besser, die Mütter verblöden in der Einsamkeit ihrer Häuser und Gärten, weil die Väter den ganzen Tag arbeiten, um den Kredit für dieses Gefängnis bedienen zu können.“
Es könnte noch gut werden mit diesen klar konturierten Personen, ihren Brüchigkeiten, ihren Sehnsüchten und Untiefen: Die Hallstätter erkennen genau, wie und wo man „Heimat“ auf ihre Kosten verkaufen, vermarkten will. Sie ekeln sich schnell vor der Banalität dieses Heimatvermarktungszirkus, werfen ihre alten Kaffeemaschinen in ihren ebenso alten Häusern an, kämpfen gegen Krebs und andere Krankheiten, folgen Kindheitsspuren und Beziehungskämpfen. Daneben schimmert die falsche Idylle, spiegelt sich das Imposante im See: glatt, eine schöne Fassade, banal – gerade deshalb ist es so herausfordernd, von ihr zu erzählen.
„Ich glaube, ich habe genug gesehen“, meint Johanna zu Doris bei ihrem Chinabesuch, und das könnte doch ein genialer Satz für TourismusexpertInnen werden.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Debütroman ignorieren:
kannenweise Witz und Satire und Humor, feine Stiche ins Wohlgefühl, einen klaren Erzählbogen, der viele Seitenwege garantiert, Freude am Fabulieren, am Erfinden, am Ausgestalten der einzelnen Charaktere, Liebe zu den Gescheiterten, zu denen, die nicht immer mitspielen wollen, Lust, laut zu lachen – und das mitten in einer TouristInnengruppe –, Nachdenken über unsanften Tourismus, auch Overtourism genannt.
Dominika Meindl:
Jahrgang 1978, arbeitet als Journalistin, Literaturvermittlerin und Organisatorin von Literaturveranstaltungen und gründete unter anderem die Lesebühne „Original Linzer Worte“. Sie lebt und arbeitet in Linz, Wels und Wilhering.
Dominika Meindl:
Selbe Stadt, anderer Planet.
Wien: Picus Verlag 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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