Dora Diamant erzählt folgende Anekdote über Franz Kafka, auf der dieses Kinderbuch aufbaut: Bei einem Spaziergang im Steglitzer Park in Berlin habe er ein weinendes Mädchen gesehen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka habe ihm erklärt, dass die Puppe verreist sei, und ihm daraufhin im Namen der Puppe mehrere Briefe geschrieben.
Franz Kafka und die verlorene Puppe
Kleine Skizzen zwischen den Textzeilen zeigen die Kulissen und damit die Jahreszeiten. Da weint die kleine Saskia, eine Szene später eilt der Autor heim in sein Zimmer unterm Dach und schreibt die erste Postkarte im Namen der Puppe, Püppi genannt.
Püppi schickt viele Grüße aus Paris, dann lässt sie aus Venedig grüßen, dann wieder aus anderen großen Städten – einmal sogar aus Ägypten. Weit lässt Franz Kafka Püppi herumkommen, für jede Karte denkt er sich besondere Abenteuer aus. Dann entdeckt er im Spielzeugladen in der Altstadt eine Puppe, die traurig an einer Teekanne lehnt. Er schenkt sie Saskia und erklärt ihr, wie mitgenommen sie nach all diesen Abenteuern und Reisen sei. Die Kleine ist überglücklich, erkennt auch die Stiefelchen wieder, von denen ihr Püppi geschrieben hatte.
Franz Kafka, dessen Lungentuberkulose erstmals 1917 diagnostiziert worden ist, wird hier als feinsinniger Erwachsener mit vielen eigenen Träumen gezeichnet und beschrieben. Dass er unter ständigem Hustenreiz zu leiden hatte, wird in dieser Geschichte verhalten angedeutet. Dass er krank sein könnte, steht zwischen den Zeilen: Wer es erkennen will, erkennt es. Es ist Winter, als Saskia die Puppe geschenkt bekommt, die Mutter gibt Franz Kekse und er geht glücklich nach Hause. Im Frühling gehen Mutter und Tochter wieder in den Park, Püppi ist natürlich auch mit dabei, fest im Arm der kleinen Saskia. Ob Franz wohl wiederkommt? „Nein, Franz ist jetzt woanders“, antwortet die Mutter. Dieses Woanders lässt viele Interpretationen zu und eröffnet das Nachfragen zur Biografie Kafkas. Ein wunderschöner Weg, Neugierde zu wecken.
Was Sie versäumen, wenn Sie dieses poetische Bilderbuch nicht (vor-)lesen:
die Idee, wie man Kinder tröstet, wie man beim Trösten selbst Trost findet, eine Erinnerung an Franz Kafka beziehungsweise an eine Anekdote über den Autor, viel Freude, Empathie und Liebe zwischen an sich Fremden.
Bernadette:
Post von Püppi.
Eine Begegnung mit Franz Kafka.
Erzählt von Bernadette.
Zürich: NordSüd Verlag 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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