Wie macht man aus Individuen Befehlsempfänger? Wie aus kleinen Buben Kämpfer? Andrea Grill legt einen Roman vor, der erschreckend nah und erschreckend real ist.
Warum muss man immer Schuldige suchen?
Der kleine Michael fällt in den Bach, seine Mutter Helena rettet ihn. Beide Elternteile suchen ineinander die/den Schuldige/n, die Notärztin unterstellt den Eltern Unachtsamkeit. Dann wird die Geschichte überaus witzig, wahnwitzig: Vater Milosh initiiert eine Petition für die Austrocknung des Flusses. Ach, was heißt hier „des Flusses“? Generell sollen alle Flüsse, in die Kinder fallen könnten, trockengelegt werden. Dann wären die Kinder ein für alle Male sicher vor dem Ertrinken in Flüssen.
Dann aber beginnen die Entführungen aller Buben, die älter als acht Jahre alt sind. Auch hier wollen Helena und Milosh alles für die Rettung ihres Kindes geben: Ein Priester, eine Taufe muss her. Obwohl das Schreiben mittlerweile als überschätzt gilt, schreibt Helena noch immer an ihre Schwester, während ihr Sohn Michael sie mit Freude und Interesse beobachtet. Nach und nach erfährt man mehr über die anfangs eher blasse Helena: Eine Sportlerin ist sie also, eine erfolgreiche sogar, die Medaillen gewinnt und noch weitere gewinnen will. Dem kleinen Michael Balaban erspart Grill ein zweites „L“ im Nachnamen, um ihn nicht allzu sehr in die Nähe des Helden des 15. Jahrhunderts zu schreiben: Grills kleiner Held sollte nicht in den Krieg ziehen müssen, sondern in Frieden aufwachsen dürfen.
„Als sie Michael holten, war es ein eher warmer Tag mit klarem Himmel. […] Die Eltern hatten, wie immer in diesen Fällen, keine Chance, es zu verhindern.“
Wenn Kinder beziehungsweise Buben das Kriegshandwerk lernen müssen, dann beginnt das Regime, die Einzelnen ins System zu pressen, ihnen ihre Individualität zu nehmen, alle Kontakte zu ihren Familien und natürlich auch alle technischen Verbindungen zu unterbrechen: Wie macht man aus Individuen Befehlsempfänger? Wie aus kleinen Buben Kämpfer? Grill legt ein Programm vor, das erschreckend nah und erschreckend real ist. Zuvor die Besorgtheit der Eltern, jetzt der radikale Gehorsam: Hier lässt die Autorin viel Interpretationsspielraum und ermuntert, stärker über ein „Wir“, ein gesellschaftliches „Wir“ nachzudenken.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
Dystopie, Kindheit, Kontrolle, Gesellschaft, Elternschaft, Lebens- und Todesfantasien, „Eltern wie Elstern“ und andere Beobachtungen, Geschichte und Aktualität, Existenzkämpfe und dazwischen auch Humor.
Andrea Grill:
1975 in Bad Ischl geboren, ist Autorin und Biologin und studierte Biologie, Italienisch, Spanisch und Linguistik in Salzburg, Thessaloniki und Tirana. Ihre Promotion schrieb sie 2003 an der Universität von Amsterdam über die Schmetterlinge Sardiniens. 2007 nahm sie am Bachmann-Preis teil.
Andrea Grill:
Perfekte Menschen.
Graz/Wien/Berlin: Leykam Verlag 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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