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01/02/25

Buchempfehlung: „Franz“

Buchempfehlung: „Franz“

Adrian Goinger nähert sich in diesem Buch sehr leise seinem Urgroßvater an. Gemeinsam mit Walter Müller lässt er den Porträtierten zu Wort kommen, sie zeichnen seine Lebenslinien nach und greifen auf Archivmaterial sowie auf Tonbandaufnahmen der Gespräche des Urgroßvaters mit seinem Urenkel zurück.

Lebensgeschichte eines Mannes, der meinte, nichts zu erzählen zu haben

Dieses Buch sollte man allen Schülerinnen und Schülern vorlegen, ihnen daraus vorlesen, sie dazu arbeiten lassen: Politische Bildung ist wichtiger denn je. Je weniger ZeitzeugInnen es gibt, desto wichtiger sind Bücher wie dieses.

Franz Xaver Streitberger kam am 2. April 1917 in Saalfelden als achtes Kind von Josef und Katharina Streitberger zur Welt. Gleich am folgenden Tag wurde er getauft, galten doch ungetaufte Kinder, die, wie es damals vorkam, die erste Woche nicht überlebten, als verlorene Seelen. Hier findet sich zum ersten Mal der Bezug zur Weltgeschichte: Franz wurde in einer Zeit geboren, in der der Erste Weltkrieg tobte, bei dem mehr als neun Millionen Soldaten und über sechs Millionen ZivilistInnen getötet wurden. Die bittere Armut und der Mangel am Nötigsten setzten der Familie schwer zu, der Vater verschuldete sich, musste seinen Hof aufgeben und gegen einen anderen eintauschen. Franz kam als „Annehmkind“ auf den Hof der Familie Herzog in Weikersbach: Schwere Arbeit lernte er früh kennen. Walter Müller stellt hier die Frage, ob diese Kinder nicht besser als „Weggebkinder“ zu beschreiben seien.

„Die Zieheltern erhielten von den zuständigen Gemeinden finanzielle Zuschüsse für jedes aufgenommen Kind, was auch eine gewisse Popularität und Selbstverständlichkeit dieses Prozederes erklärt.“
Seite 30

Lesend begleitet man Franz in 13 Kapiteln auf seinem Weg, freut sich mit ihm über die bestandenen Prüfungen, unter anderem zum Freischwimmer und Kraftradlenker, und seine Wünsche, mit ehrlicher Arbeit weiterzukommen. Man findet sich in der Kaserne in Lehen wieder, die man als Doppler-Gymnasium wiedererkennt. Genau das gelingt Walter Müller an vielen Stellen des Buches ganz hervorragend: die Verortung der Lebensgeschichte, die dazu beiträgt, immer zwischen einem Damals und einem Jetzt ausgewogen hin- und herzuschwingen.

Man beginnt, Franz zu verstehen, man begleitet ihn und seine Kameraden, lernt einen Fuchs kennen und leidet mit Franz, als dieser erschossen wird. Ein Kamerad hat nicht erkannt, wie zahm das Tier durch seine Bekanntschaft mit Franz inzwischen geworden war. Beeindruckend sind auch die Schilderungen des Spitzelwesens – man erkennt, dass das Vernadern doch Geschichte hat, und spürt aktuelles Grauen. Das Spannungsfeld von Faktum und Erinnerung ist hier ausgewogen, keine Heldensaga wurde hier geschrieben. Ein stilles Buch über einen stillen Mann. Man kann es nicht laut genug empfehlen.

Was Sie versäumen, wenn Sie diese Biografie nicht lesen:

Zeit- und Weltgeschichte, Alltagsgeschichte, Einblicke in die Resilienz einer Generation, Einblicke in das Leben im Pinzgau, in Saalfelden, in Armut. Sie versäumen auch, wie ein Urenkel seinen Großvater liebt und versteht und ihm ein beeindruckendes Denkmal setzt – und das in aller Bescheidenheit.

Adrian Goinger:

1991 in Salzburg geboren, ist österreichischer Filmemacher. Sein Langfilm „Die beste aller Welten“ wurde mehrfach ausgezeichnet. Das Buch, das hier mit meinem Lesezeichen versehen wird, ist das Buch zum ebenfalls sehr erfolgreichen deutsch-österreichischen Kinofilm „Der Fuchs“.

Walter Müller:

1950 in Salzburg geboren, schreibt Erzählungen, Essays, Glossen und Romane. Er war von 1990 bis 1997 Rauriser Stadtschreiber, ist zudem als Trauerredner tätig und hat bisher mehr als 200 Reden verfasst. 23 dieser Reden lassen sich in seinem Buch „Wenn es einen Himmel gibt“ nachlesen.

Adrian Goinger / Walter Müller:
Franz.
Die Geschichte meines Urgroßvaters.
Salzburg: Verlag Anton Pustet 2024.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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  • Veröffentlicht: 13.01.2025
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