Ohne Pathos, aber mit unendlich viel Gefühl lässt Therese Tungen in ihrem Roman eine Mutter erzählen, wie ihr Leben durch den Tod ihres Kindes auseinanderbricht und wie sie versucht, es zusammenzuhalten.
Edvin ist tot, aber in jedem Moment lebendig
Edvin ist sieben, fröhlich, ausgelassen in seinen Ferien bei den Großeltern: Super, es ist ihm gelungen, das Rad wie die großen Cousinen zu schlagen! Beim Abendessen klagt er über Kopfschmerzen, er kollabiert, wird ins Krankenhaus geflogen. Edvins Eltern renovieren gerade die Wohnung in Oslo, als der alles verändernde Anruf kommt: Edvin ist in Lebensgefahr. Die Eltern sitzen an seinem Krankenhausbett, das Herz schlägt noch.
„An jenem Dienstag im August durchsuchten sie die Wartelisten in Norwegen und den Nachbarländern nach Kindern, die dringend Organspenden benötigten. Ich sah sie vor mir: Kinder, die in ein Krankenhaus geflogen wurden, um dort ein neues Organ zu bekommen. Vielleicht hatten sie die Tasche schon fertig gepackt, falls der Anruf kam.“
Edvins Eltern wollten, so die Erinnerungen der Ich-Erzählerin, Edvins Mutter, sowohl eine Obduktion als auch die Organspende, also zwei Operationen an dem kleinen Edvin. Der Tod des Buben ergreift nicht nur die Familie, sondern auch seine FreundInnen und alle, die diesen kleinen, wagemutigen Buben kannten. Erinnerungen dringen immer stärker durch, bleiben im Alltag stecken: kein Weg durch die Wohnung ohne Edvin, überall sind seine Spuren und die Erinnerungen an ihn. Die Schwester leidet anders als die Großeltern und die Eltern, gemeinsam sucht und findet die Familie Rituale. Schritt um Schritt nimmt man die Herausforderungen des Alltags an, versucht – auch um es seiner Schwester Idun zu erleichtern –, wieder Vertrauen ins Leben zu finden. Ohne Pathos, aber mit unendlich viel Gefühl erzählt hier eine Mutter, wie ihr Leben durch den Tod ihres Kindes auseinanderbricht und wie sie es zusammenhalten will – ihrer Tochter, ihrem Mann und ihrer gesamten Familie zuliebe. Jede/r versucht, den anderen eine Stütze zu sein, und weint dabei in seine Suppe.
Ein stilles Buch, eine tiefe Geschichte, die dokumentiert, wie ein Anruf alles „Hygge“, alle Gemütlichkeit, alle Pläne zerstören kann. Eine Familie, eine Wohnsiedlung und viele FreundInnen trauern, still, wütend, leise und immer darauf bedacht, Edvin ins Zentrum zu stellen. Das Leben zu lieben, heißt wohl auch, diese Trauer zu leben. Die Ich-Erzählerin rettet sich mit dem Suchen nach Worten, deren Auffinden und Abwägen, mit dem Formulieren und Verwerfen von Aussagen und neuen Formulierungen. Abstraktes kann eine Stütze sein, wie das Malen, aber auch das Handwerken, das Forschen oder das Kochen einer Suppe für die Familie.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
Erinnerung daran, wie schön das Leben gerade ist, Facetten von Trauer, Stufen der Trauer und dazwischen ein klein wenig Alltag, Kinderwunsch nach Verlust eines Kindes, die Liebe eines Paares, die Heilkraft der Worte, des Schreibens und für uns auch die Heilkraft des Lesens.
Therese Tungen:
geboren 1977, arbeitete als Lektorin und später als freie Autorin. Sie lebt in Norwegen.
Therese Tungen:
Dreh dich um.
Aus dem Norwegischen von Nora Pröfrock und Frank Zuber.
Zürich/Berlin: Kein & Aber 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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