Isabelle Autissiers Roman beginnt nach einer Katastrophe, genauer gesagt, nachdem Venedig von einer Riesenflutwelle überschwemmt wurde beziehungsweise untergegangen ist.
Tod in Venedig 2.0
Ausgerechnet Guido Malegatti, mächtiger Bauunternehmer und Wirtschaftssenator Venedigs, überlebt die Katastrophe. Autissier setzt dieses Drama im Jahr 2021 an, lässt Malegatti den Bösen geben, der alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte: Er glaubt an Bares, an die Wirtschaft und an den Tourismus, egal, wie viel dieser Ausverkauf der Kultur Venedigs auch kosten mag. Er wacht im Krankenhaus auf, hängt seinen Visionen nach, die durch tiefe Trauer über das Verlorene durchzogen sind. Dazwischen träumt er von einem Zauberstab, der ihn verschwinden ließe.
„Weit weg, so weit weg wie möglich von dem, was ihn quälte: der Tod Maria Albas und das Verschwinden von Léa, der Einsturz des Hauses, in dem er die schönsten Momente seines Lebens verbracht hatte, dazu die Freunde, die Geliebten und selbst ein paar abgefeimte Kontrahenten, von deren Tod er Tag für Tag erfuhr.“
Seine 17-jährige Tochter Léa ist ihm von der kräftigen Statur her ähnlich, ihre Gesinnung ist eine andere: Sie hat sich einer Umweltschutzorganisation angeschlossen, ist nicht müde geworden, vor dem Untergang Venedigs und allen drohenden Katastrophen zu warnen. Kunst- und feinsinnig, kampfbereit und sehr gut informiert, setzt sie sich gegen den Ausverkauf der Lagunenstadt zur Wehr. Sie, die am liebsten zum klaren und energischen Ruf der Stelzenläufer aufwacht, nimmt die Rolle der Mahnerin und Kämpferin ein. Ja, die weltweite Coronapandemie wäre die große Chance gewesen, Mensch und Natur und damit auch Venedig neu zu denken. Weniger Gäste, ein anderes Tourismuskonzept? Auch hier erhebt Léa ihre Einwände, denn sie will „ihre“ wunderbare Stadt nicht den Reichen überlassen, es soll nicht der Elite vorbehalten sein, Schönheit und Historie zu genießen. Jetzt, da sie die riesige Flutwelle überlebte und auf einer Insel lebt, werden ihr Kleinigkeiten zum kostbaren Gut: Sie liebt das Fischen, das ihr zur Gewohnheit geworden ist.
„Seit sie auf der Insel wohnt, ist Léa auf den Geschmack körperlicher Anstrengung gekommen. Nicht auf künstliche Art und Weise wie in einem Sportstudio, sondern wie im echten Leben.“
Wer sich an Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ erinnert fühlt: Hier kämpft eine Frau für neue Werte, lernt viel, das ihr ihre hohe Bildung vorenthalten hat – so lehrt sie beispielsweise das Fischen, die Lagune zu verstehen.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
Venedig, Vater-Tochter-Venedig-Beziehung, die Gelegenheit, sich Gedanken über Venedig und dessen kulturelles Erbe zu machen, sich Gedanken über Erderwärmung und Klimawandel zu machen, Selbstbestimmung einer jungen Frau.
Isabelle Autissier:
1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. Sie hat als erste Frau bei einer Regatta die Welt umsegelt. „Klara vergessen“ erschien 2020 und „Herz auf Eis“, 2017 erschienen, wurde zum mittlerweile verfilmten Bestseller.
Isabelle Autissier:
Acqua Alta.
Übersetzt von Kirsten Gleinig.
Hamburg: mare 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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