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11/12/24

Die Loslasserin

Die Loslasserin
Foto: Zuparino

Jede/r kann jodeln. Dazu muss man aber erst loslassen – vor allem die eigene Angst vorm Scheitern. Die Jodlerin Anita Biebl hat das durch einen Schicksalsschlag gelernt.

Einen Tag vor ihrer geplanten Hochzeit muss Anita Biebl ihren Verlobten beerdigen. Ein Autounfall reißt Simon aus dem Leben. Neun Tage liegt er im Koma. Aufgrund der Coronapandemie darf sie ihn nicht im Krankenhaus besuchen und kann sich nicht verabschieden. Drei Jahre ist das nun her. Das Singen und besonders das Jodeln helfen der Musikerin in dieser schweren Zeit: „Jodeln ist für mich wie Singen ohne Worte. Gerade weil wir beim Jodeln die Sprache weglassen, geht es viel tiefer.“

Es ist die Zeit der vielen Lockdowns, die die Künstlerin dazu bringt, sich mehr aufs Jodeln zu konzentrieren. Die wenigen Phasen, in denen sie als Musikerin arbeiten darf, will sie gut nutzen. Und dann kommt der Schicksalsschlag.

„Ich wollte Musik nicht nur im Kopf haben, sondern auch richtig mit dem ganzen Körper fühlen. Dazu muss man Sprache loslassen.“
Anita Biebl

„Weil man beim Jodeln so viel von innen nach außen bringen muss, hat man die Chance, dass man das, was dabei zum Vorschein kommt, auch loslassen kann. Das habe ich lernen dürfen. Das hat mich verändert und etwas in die Heilung gebracht.“ Singen ermöglicht das zwar auch, aber beim Jodeln geht noch mehr, meint Biebl. Auch beim Beatboxen hätte sie nicht so loslassen können. Mit 17 Jahren probiert Biebl das Beatboxen zum ersten Mal aus, findet dann aber während ihres Studiums am Mozarteum in Salzburg zufällig zum Jodeln. „Ich dachte mir damals: Es ist total schade, dass wir unsere Stimme nicht als Klangerzeuger nutzen. Ich wollte Musik nicht nur im Kopf haben, sondern auch richtig mit dem ganzen Körper fühlen. Dazu muss man Sprache loslassen.“

Die Beziehung zwischen Musik und Sprache fasziniert Biebl schon in der Volksschule. Damals sitzt ihr die Angst im Nacken, sie könnte beim Singen den Text vergessen: „Als andere Kinder in der Klasse schlechtere Noten bekamen, nur weil sie die zweite Strophe nicht mehr wussten, fand ich das furchtbar ungerecht. Was hat das bitte mit Musik zu tun?“

Foto: Flausen

Jodeln ist für Anita Biebl mit einer weniger großen Erwartungshaltung verbunden: „Beim Singen geht es schnell in die Bewertung. Fast jeder hat irgendeine Erinnerung an die Schulzeit, in der uns jemand sagt, wir könnten nicht singen.“ Und gerade diejenigen, die glauben, sie könnten sowieso nicht singen, kommen heute gerne in Anita Biebls Jodelkurse. „Sie finden das witzig und sind dem Jodeln gegenüber offener.“ Die Wahlsalzburgerin, die am Chiemsee aufgewachsen ist, gründete ihre eigene Jodelschule und unterrichtet mittlerweile regelmäßig auf der Katrin in Bad Ischl oder am Rauchhaus in der Nähe des Fuschlsees. Auch privat kann man Workshops bei ihr buchen. Weder Dirndl noch Vorkenntnisse sind für einen Jodelkurs notwendig.

„Jodeln ist ein bisschen wie Kraftsport mit Stimme.“
Anita Biebl

Zum Aufwärmen wird massiert, abgeklopft und mit Atemübungen das Zwerchfell aktiviert. Dann testet Biebl die Reaktionen der Gruppe spielerisch, damit sie weiß, wie weit sie gehen kann. Plötzlich ruft sie laut „Schaa“, adressiert den Ruf direkt an eine Person und springt mit einem Satz nach vorn. Das Gegenüber reagiert aus der tiefen Bruststimme mit einem innbrünstigen „Haaa“. Dann kommt eine weitere Person ins Spiel und ruft „Fuuu“. „Es ist ein bisschen wie Kraftsport mit Stimme. Wichtig ist dabei der Körpereinsatz. Dieser Schritt aus der Komfortzone öffnet die Sinne, alles verbindet sich und die Leute kommen ins Scheitern.“ Und das Scheitern provoziert Biebl regelrecht. Sie will, dass in ihrem Kurs gleich zu Beginn Fehler gemacht werden. „Dann wird gelacht, und damit schaltet sich der Kopf aus, die Menschen werden automatisch locker und sind im Augenblick.“

Foto: Flausen

Aber kann denn tatsächlich jede/r jodeln? „Und wie“, lacht die gebürtige Bayerin, „spring vom 10-Meter-Turm, dann siehst du, wie gut du jodelst.“ Der Kern beim Jodeln ist das Schnackeln, also der Moment, bei dem der Laut von der Brust- zur Kopfstimme springt. Jodeln, so sagt sie, sei viel mehr als nur Musik und Tradition: „Irgendwann ist es zur Tradition geworden, im ursprünglichen Sinn ist es eine Kommunikationsform. Man ruft von einem Berg zum anderen und will zum Beispiel den Kühen drüben eine Information weitergeben.“

„In Wahrheit ist ein Jodler die erste Kurznachricht, die wir verschickt haben – lange vor einer SMS.“
Anita Biebl

Gejodelt wird übrigens weltweit und immer schon, entstanden ist es, während wir unsere Sprache entwickelt haben. In Afrika, in Schweden, ja sogar in Thailand wird gejodelt. „Im Alpenraum ist das Jodeln so bekannt, weil es sich musikalisch am weitesten entwickelt hat. Der Mensch jodelt länger, als er schreiben kann. In Wahrheit ist ein Jodler die erste Kurznachricht, die wir verschickt haben – lange vor einer SMS.“ Dass das Jodeln im Alpenraum erfunden wurde, von dieser Vorstellung muss man sich lösen, weiß Biebl.

Sich lösen und loslassen – das sind Themen, die Biebl auf ihren Lebensweg immer wieder begleiten. Andere Künstler und Künstlerinnen schöpfen aus ihrem Chaos, Biebl muss erst ordnen und Raum schaffen, bevor sie kreativ wird. Für die 41-Jährige ist es wichtig, an nichts festzuhalten und keinen Ballast anzusammeln. „Sonst ersticke ich und kann nichts erschaffen. Mit Simons Tod hat das dann eine ganz neue Ebene erreicht. Als hätte ich mich für ein Vollzeitstudium im Loslassen angemeldet, ohne es je geplant zu haben.“

In diesem unfreiwilligen Studium habe sie zum Beispiel das Neinsagen gelernt. Biebl überlegt heute gut, für welchen Job und für welches Geld sie ihre Zeit hergibt. Früher hätte sie sich nicht getraut, abzulehnen, aus Angst um ihre Karriere. Die erstaunliche Erkenntnis: Für jedes Nein kommen unerwartet fünf Ja zurück. Ihre Umgebung nimmt ihr Nein viel besser auf, als sie gedacht hätte. Damit sei vor allem der Druck weniger geworden: „Simon war neun Tage im Koma, dabei ging es ständig um den Druck in seinem Kopf. Vom Druck hing ab, ob er aufgeweckt werden kann oder nicht. Für mich ist Druck sowas von sinnlos geworden. Mein Leben findet seither ganz ohne Druck statt.“ Im Nachhinein ist dieser Lernprozess, der durch die Trauer kam, für Biebl eine Bereicherung: „Wenn so etwas passiert, dann stirbst du zuerst mit, aber irgendwann merkst du, dass du selbst noch da bist. Und dann beginnt die Wiedergeburt.“

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  • Veröffentlicht: 19.11.2024
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