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04-05/24

Ein sowjetischer Slum

Ein sowjetischer Slum

Notiz #7: Über einen russischen Slum & und als ich den Zerfall der Sowjetunion hautnah miterlebte. Von Natalie Halla.

Eine wahnwitzige Idee

Schwarzer PantherGestern stieß ich auf Rilkes Gedicht „Der Panther“, eines meiner Lieblingsgedichte. Ich lernte es vor langer Zeit auswendig, als ich mich wie jener Panther fühlte, der sich hinter Gitterstäben im allerkleinsten Kreise dreht. Dreißig Jahre ist es jetzt fast her, als es mich als Teenager nach Russland zog, zu einer Zeit, als alle anderen SchülerInnen zum Austausch in die USA gingen. Man versuchte mich von meiner wahnwitzigen Idee abzubringen und als das nicht gelang, mich nach Riga, damals die „europäischste“ und somit vielleicht sicherste Stadt der Sowjetunion, zu schicken. Doch dann kam alles anders. Wenige Wochen vor meiner Abreise zerfiel die Sowjetunion und statt in die sicherste Stadt ganz im Westen kam ich zu einer russischen Gastfamilie nach Orechowo-Sujewo, einem sowjetischen Slum weit im Osten Moskaus, der zweitgefährlichsten Stadt Russlands.

Orechowo-Sujewo

Doch von der tragischen Statistik dieser Stadt wusste ich nichts, als ich mit 16 Jahren fassungslos und alleine zwischen immer gleichen, riesigen Betonbaracken umherirrte und vergeblich nach einem Zeichen städtebaulicher Menschlichkeit suchte. Orechowo-Sujewo war ein Riesenschock und zerstörte meine, von Puschkins und Dostojewskis Lektüren geprägten Teenagerfantasien eines romantischen Russlands. Nichts in meinem Leben hat mich so sehr geprägt wie diese Stadt, deren Name mir selbst jetzt noch Gänsehaut verursacht. Aber Orechowo-Sujewo war auch ein Riesengeschenk, denn es nahm mir zur Gänze die Angst vor dem Leben und schenkte mir somit ein ultimatives Gefühl der Freiheit. Orechowo-Sujewo war der Ursprung all meiner späteren Abenteuer.

Vier Monate im Slum

Vier Monate verbrachte ich in dieser Stadt, die keine Stadt war, und doch eine halbe Million Seelen beherbergte. Erst dann wurde ich nach Moskau evakuiert, wo man für mich eine neue Gastfamilie fand, die auch heute noch ein Teil meines Lebens ist.

Vier Monate, in denen ich als absolutes „Exotikum“ eine russische Mittelschule besuchte und mir Russisch anhand veralteter sowjetischer Geschichtsbücher aneignete, die eine ganz andere Version der jüngeren europäischen Geschichte erzählten. Ich denke mir im übrigen die Wahrheit von dem, was damals wirklich geschah, liegt irgendwo in der Mitte.

Vier Monate, in denen ich die wirkliche Bedeutung der russischen Gastfreundschaft kennen und die Tiefe der russischen Seele lieben lernte. Mein Gastvater, der als Fernfahrer viel unterwegs war und mir abends mit einem Glas Wodka in der Hand von seinen abenteuerlichen Fahrten durch Sibirien erzählte. Meine Gastgroßeltern, die eine einzige Kuh besaßen, von der ihre Existenz abhing, und die sie wie ein weiteres Familienmitglied behandelten. Ein Freund, der als Matrose auf einem Atom-U-Boot dienen musste und erst den Entlassungsschein bekam, als er sämtliche Haare verloren hatte. Ausgedient. Für ein Leben lang. Ich habe in Orechowo-Sujewo so viele interessante Menschen kennengelernt, die für mich allesamt das sowjetische Schicksal verkörpern.

Rettende Evakuierung

Die Evakuierung nach Moskau war meine Rettung und doch fühlte ich mich als Versagerin. Ich bin nie mehr nach Orechowo-Sujewo zurückgekehrt. Vielmehr habe ich versucht, diese Stadt aus meiner Erinnerung zu verbannen. Doch jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, sehe ich sie ganz klar wieder vor mir, als wäre es gestern gewesen: grauer Beton und lehmfarbene Erde, ein vergifteter brauner Fluss, der sich wie eine tödliche Schlange durch die Stadt wälzte, Kleinkinder, die brennende Äste über ihren Köpfen schwangen und mit toten Ratten spielten, ein überwucherter, verrosteter Vergnügungspark, längst außer Betrieb und streunende Hunde. So viele Hunde. In meiner Vorstellung lebten all diese Menschen in Rilkes Pantherkäfig. Ich war damals nur eine von ihnen. Aus Orechowo-Sujewo gab es kein Entrinnen. Das gab es nur für mich, die ich das Glück hatte, den richtigen Pass zu besitzen. Ich denke mir oft, wie viele Orechowo-Sujewos gibt es noch auf dieser Erde? Und wie viele Panther, die sich im allerkleinsten Kreise drehen?

Natalie Halla

Natalie Halla

spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com

Foto: Alexandra Grill

Fotos: Natalie Halla, Cait Hurley / creative commons

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  • Veröffentlicht: 07.08.2020
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