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04-05/24

Auf der Suche nach Gaelle

Auf der Suche nach Gaelle

Notiz #3: Meine Reise nach Haiti & als ich mit dem Albtraum eines spanischen Feuerwehrteams konfrontiert wurde.

Das Schicksal eines Mädchens

Gaelle hatte am längsten von allen durchgehalten. Fünf Tage lang. Sie lebte noch, als alle Hoffnung längst erloschen war und man nur mehr nach den Toten suchte. Damals, als ein Erdbeben Port-au-Prince in Haiti dem Erdboden gleichmachte und über 300.000 Menschenleben forderte. Am fünften Tag fand ein spanisches Feuerwehrteam das Mädchen begraben unter den Trümmern eines kleinen Hotels, in dem sie als Rezeptionistin gearbeitet hatte. Sie war noch bei Bewusstsein, jedoch schwer verletzt. Die spanischen Männer versuchten sie wach zu halten, während sie vorsichtig den Schutt, der das Mädchen gefangen hielt, abtrugen. Gaelle hatte es fast überstanden, als das Schicksal plötzlich einen ganz anderen Verlauf nahm und das spanische Team zur Flucht vor einer bewaffneten Bande geflohener Häftlinge zwang. Alle späteren Versuche zum Mädchen zurückzukehren scheiterten an dem apokalyptischen Chaos jener Tage. Nach ihrer Heimkehr wurden die spanischen Feuerwehrmänner als Helden gefeiert, doch Gaelles Schicksal und die Ungewissheit, ob sie überlebt hatte, hinterließ bei ihnen eine tiefe Narbe. Eine Narbe, die nicht mehr heilte.

Das Bild der Hoffnung

Ich wohnte zu jener Zeit in Spanien und verfolgte gespannt die Rettungsaktionen der internationalen Helfer. Vom Schicksal Gaelles wusste ich damals nichts. Ich war zutiefst berührt von dem Foto eines kleinen Buben, den das Team aus den Trümmern seines Hauses bergen konnte. Das Bild Redjis ging damals als Symbol der Hoffnung um die Welt und gewann später den Pulitzer Preis. Es inspirierte mich dazu, ein Jahr nach dem Erdbeben mit dem spanischen Feuerwehrteam nach Haiti zurückzukehren, um zu sehen, was aus dem Buben und dem Land geworden war. Denn Haiti war schnell vergessen worden.

Auf der Suche nach Gaelle

Auf der Suche nach Worten

So fuhr ich mit einem kleinen Kamerateam und drei spanischen Feuerwehrmännern in ein Land, das noch immer in Trümmern lag und in dem die Cholera grassierte. Wir wohnten direkt neben einem der unzähligen Zeltlager. Hunderttausende Menschen waren damals obdachlos geworden und lebten ein Jahr nach dem Erdbeben noch immer unter Plastikplanen. Auch in unserem halbverfallenen Haus gab es weder Strom noch fließendes Wasser. Dafür hatte man neue Asphaltstraßen im Viertel der Reichen erbaut, das vom Erdbeben verschont geblieben, weil es hoch oben über dem Meer, weit weg vom Epizentrum lag. Ich wollte dort in keinem Hotel wohnen, sondern lieber unten bei den Menschen, die alles verloren hatten. In der ersten Nacht konnte niemand von uns schlafen und mir wurde bewusst, wie tief das Trauma der Spanier saß. Die Reise zurück nach Port-au-Prince hatte die alten Wunden wieder aufbrechen lassen und ich suchte verzweifelt nach Worten, um ihnen zu helfen sie wieder zu schließen.

Das Ende der Geschichte

Redji fanden wir nach langer Suche, doch Gaelles Schicksal blieb bis zum Ende unserer Reise ein Rätsel. Wir durchforsteten tagelang das gesamte Epizentrum, das noch immer in Trümmern lag. Erst am letzten Tag fanden wir den genauen Ort, an dem sich das kleine Hotel befunden hatte und dort stand er, ein Mann mittleren Alters, der perfekt Spanisch sprach. Es schien fast, als hätte er ein ganzes Jahr lang nur auf uns gewartet. Gewartet, um die Geschichte fertig zu erzählen. Gaelles Geschichte. Er hatte sie gut gekannt und er war es damals gewesen, der sie eigenhändig aus den Trümmern befreit hatte. Acht Tage nach dem Erdbeben. Da war sie bereits tot. Ich hörte auf zu filmen. Versuchte, mich unsichtbar zu machen, um die Spanier in ihrer Trauer nicht zu stören. Die Tränen der Feuerwehrmänner waren nur für Gaelle bestimmt.

Ein Freund fürs Leben

Haiti hat mir damals einen Freund fürs Leben geschenkt: Pako, der Chef jenes Feuerwehrteams, der mich seither auf fast allen meiner filmischen Abenteuer begleitet. Die Suche nach Gaelle hat uns untrennbar zusammengeschweißt. Zwei Dinge sind mir von Haiti im Gedächtnis geblieben: das Bild der roten Rosen an jenem Ort, an dem meine spanischen Freunde endlich trauern konnten um ein haitisches Mädchen, von dem sie nur den Namen kannten, und die Erinnerung an die vielen lebensfrohen Kinder der Zeltlager, die es liebten, sich selber im Viewer meiner Kamera lachen zu sehen. Sie waren ein Symbol dafür, dass das Leben trotz allem immer weiter geht. Aber nicht für alle.

Natalie Halla

Natalie Halla

spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com

Foto: Alexandra Grill

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  • Veröffentlicht: 30.06.2020
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